Der sündige Stadtteil

Wie der Mythos St. Pauli entstand

von Dr. Ortwin Pelc, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Hamburg Museum

 

St. Pauli und die Reeperbahn – zwei weltweit bekannte Begriffe, hinter denen etwas Anrüchiges und Zwielichtiges, Unmoral und Sex, Vergnügen jeder Art vermutet werden. Die Hamburger und erst recht die St. Paulianer wissen es besser, aber worauf beruht dieser Ruf?

 

Die Sonderrolle St. Paulis als Stadtteil und Vergnügungszentrum entstand aus seiner Lage auf 800 Metern zwischen Hamburg und Altona. Dieses Gebiet, der Hamburger Berg, gehörte seit dem Mittelalter zum Hamburger Landgebiet. Hier mussten sich Gewerbe ansiedeln, die in der Stadt nicht gern gesehen wurden oder zu viel Platz beanspruchten: Tranbrennereien und Ölmühlen, ein Krankenhof und für die Seilmacher schon im 17. Jahrhundert lange Reeperbahnen. Nachdem der Hamburger Berg 1830 den Status einer Vorstadt erhalten hatte, wurde er nach seiner Kirche „St. Pauli-Vorstadt“ genannt.

 

Vom Hamburger Berg bot sich eine herrliche Aussicht über die Elbe. Aufgrund des regen Ausflugverkehrs traten hier mobile Schausteller, Seiltänzer und Gaukler auf, seit 1795 wird der Spielbudenplatz erwähnt. Um das wachsende Durcheinander der ambulanten Vergnügungsbetriebe aus Karussells, Kaspertheatern sowie Buden und Zelten in eine gewisse Ordnung zu bringen, legte die Hamburger Stadtverwaltung im Jahr 1840 Bauplätze für feste Gebäude an. Finanzkräftige Schausteller konnten nun in diese dauerhaften Gebäude einziehen und ihre Programme wetterunabhängig anbieten. Diese Etablierung des Vergnügungsviertels hatte sofort einen Gründungsboom zur Folge: 1840 wurde das Elysium-Theater eröffnet, im folgenden Jahr der Circus-Gymnasticus für 3000 Besucher, die Orientalische Halle und das Urania-Theater. Die Betreiber boten verkleidetes Personal, exotische Stimmungen und besondere Illuminationen. Fast alle Mittel waren recht, um Besucher nach St. Pauli zu locken.

 

1855 eröffnete Ernst Renz seinen „Olympischen Circus“ und ließ am Circusweg  einen festen Bau errichten, der für Zirkusbauten in ganz Europa als Vorbild diente. 1897 übernahm sein Konkurrent Paul Busch das Unternehmen und den Bau, der dann im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. 1858 pachtete Carl Schultze das Tanzlokal ‚Joachimstal‘ und gründete dort ein Sommertheater, das später als ‚Carl-Schultze-Theater‘ eines der bekanntesten Operettenhäuser Hamburgs wurde. Im traditionsreichen Trichter veranstaltete der geschäftstüchtige Gastronom Theodor Mutzenbecher Garten- und Promenadenkonzerte, artistisch-musikalische Darbietungen und Frühschoppen-Konzerte an den Sonntagvormittagen. Bei der wachsenden Konkurrenz und den steigenden Ansprüchen des Publikums musste er stets neue Unterhaltungsangebote machen und den sich wandelnden Zeitgeschmack genau beobachten. Von dem 33 Meter hohen Turm des ‚Trichters‘ hatte man einen weiten Blick über St. Pauli und die Elbe. Diese rasche Entwicklung des Vergnügungsgewerbes auf St. Pauli wurde auch durch die Zunahme der Ordnungshüter deutlich. 1840 gab es die erste Polizeiwache, 1854 erhielt sie ein klassizistisches Gebäude, bis heute als Davidwache bekannt.

 

Nachdem die Torsperre 1861 aufgehoben und 1865 die Gewerbefreiheit eingeführt worden waren, erlebte die Vorstadt einen weiteren Aufschwung. St. Pauli besaß damals noch eine enge Anbindung an den Hafenbetrieb, denn schon seit 1839 gab es am Elbufer die Landungsbrücken für Dampfschiffe und 1861 wurde hier ein Fischereihafen mit einem Großmarkt angelegt. Die Vorstadt wuchs im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts parallel zu Hamburg, 1894 erhielt St. Pauli den Status eines Stadtteils mit allen Rechten.

 

Das Unterhaltungsgewerbe mit allen seinen Begleiterscheinungen profitierte von dieser rasanten Entwicklung Hamburgs. Mit dem Bedarf an Freizeitunterhaltung bei Einheimischen und Fremden stieg auch die Vielfalt des Unterhaltungsangebots. So gab es neben Varietés auch Theater, in denen nicht nur Operetten, Volksstücke, Possen und plattdeutsche Komödien aufgeführt wurden. Im Carl Schultze-Theater wurde 1874 die „Fledermaus“ gezeigt. 1880 dirigierte hier Johann Strauß seine Walzer. Hier hatte 1893 Gerhard Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ Premiere, es folgten Stücke von Ibsen, Strindberg und Wedekind, die zeigen, dass auf St. Pauli damals durchaus ernsthaftes Theater gespielt wurde.

 

Von der seriösen Unterhaltung zum unseriösen Vergnügen waren die Übergänge fließend, zugleich lockte die Vielfalt und Unübersichtlichkeit der Amüsierbetriebe Kriminelle an. So war ein Besuch St. Paulis immer auch mit einem Hauch von Abenteuer verbunden. Als Besucher begab man sich in die Nähe illegaler Etablissements, riskierte einen Blick in unerlaubte Welten oder erlebte sogar etwas, was in der übrigen bürgerlichen Welt entrüstet abgelehnt wurde. Neben den Gastronomie- und Unterhaltungsbetrieben existierte auf St. Pauli auch immer die gewerbsmäßige Prostitution. Die Zahl der Bordellbetriebe wuchs mit der Zunahme des Vergnügungsbetriebs auf St. Pauli, denn ein Teil der männlichen Besucher des Stadtteils wollte sein Vergnügen nicht auf Theater- oder Restaurantbesuche beschränken. Insbesondere an der Davidstraße waren die Prostituierten anzutreffen, in Kneipen, wo die Kontaktaufnahme bei Musik und Getränken erfolgte, oder in großen Tanzlokalen, in denen die Mädchen Kammern für ihre Dienste besaßen. Die Namen dieser Etablissements waren gediegen unverfänglich: „Stadt London“, „Goldener Engel“, „Zum schwarzen Bären“.

 

 

Da Verordnungen gegen die Prostitution nicht fruchteten, wurde dieses Gewerbe in Hamburg seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zwar nicht zugelassen, aber geduldet. Prostituierte mussten registriert sein, wenn sie nicht riskieren wollten, wegen gewerbsmäßiger Unzucht bestraft zu werden. Den Behörden ging es dabei vor allem um die Bekämpfung von Krankheiten, und man wusste, dass Verbote nur die heimliche, nicht kontrollierbare Prostitution fördern würden. Ein erstes Regulativ bestimmte 1847 das Verhältnis zwischen den Bordellwirten und den Prostituierten auf St. Pauli, da dieses Abhängigkeitsverhältnis oft zur Ausbeutung der Frauen führte. In den 1830er und 1840er Jahren betrug der Anteil der registrierten Prostituierten auf St. Pauli etwa ein Fünftel der Hamburger Prostituierten. So arbeiteten 1834 120 Frauen in 18 Bordellen auf  St. Pauli und 621 in Hamburg. Der Hamburger Senat zeigte sich gegenüber dieser Thematik recht gelassen, 1876 wurden die Hamburger Behörden jedoch durch Reichsgesetze gezwungen, Bordelle zu verbieten und strenge Kontrollen anzuwenden. Faktisch folgte nun nur ein Etikettenschwindel: Die Bordelle wurden in „Beherbergungshäuser“ umbenannt und ihre Zahl stieg. Es wurde versucht, die Bordelle auf wenige Straßen zu konzentrieren. Die Herbertstraße auf St. Pauli wurde um 1900 zur besseren Kontrolle zu einer Wohnanlage mit Toren an beiden Enden umgewandelt, in der sich nun nur noch Bordelle befanden. Die propagierte bürgerliche Moral des 19. Jahrhunderts lehnte die Prostitution als verwerflich ab. Zugleich besuchte und bezahlte das bürgerliche männliche Publikum die Prostituierten nicht nur auf St. Pauli. Für den Besucher St. Paulis war die Prostitution immer sichtbar, dies war eine Besonderheit gegenüber anderen Städten und machte einen Teil der Anziehungskraft dieses Stadtteils aus.

 

Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte St. Pauli seinen hohen Bekanntheitsgrad erreicht. Das Lied „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ wurde erstmals 1911 in der Revue „Rund um die Alster“ öffentlich gesungen und geriet zu einem solchen Erfolg, dass es seitdem als eine Art „Hymne“ von St. Pauli gilt. Der Stadtteil behielt seinen Ruf und seine Funktion als Vergnügungsviertel mit Höhen und Tiefen trotz aller wirtschaftlichen und politischen Widrigkeiten während des Ersten Weltkrieges, der Weimarer Republik und der NS-Zeit. Nach 1945 machten nicht nur die Filme von Hans Albers St. Pauli weiter bekannt. Neben den großen Tanzpalästen und Kinos gab es schon in den 1950er Jahren bekannte Clubs, die Anfang der 1960er Jahre zur Geburtsstätte der Beatmusik wurden. Im Kaiserkeller, dem Top Ten und im Star Club feierten die Beatles nächtelang Erfolge, bevor ihre Weltkarriere begann. Daneben gab es zunehmend freizügigere Striptease-Bars, die Prostitution suchte neue Vermarktungswege durch Großbordelle wie im Eros-Center und die Internationalisierung durch Frauen aus Osteuropa und Asien. Eng damit verbunden war die organisierte Kriminalität, die sich ebenfalls stark wandelte, denn die einst bekannten Lokalgrößen verschwanden gegenüber unauffälliger agierenden internationalen Netzwerken von Kriminellen.

 

Das problematische Image des Stadtteils in den 1970er Jahren durch Verfall, Hausbesetzungen in der Hafenstraße und Kriminalität wandelte sich seit den 1980er Jahren allmählich durch erfolgreiche Musicals wie „Cats“ und neue Theater wie das „Schmidts“. Preiswerte Mieten machten St. Pauli beliebt als Wohnquartier bei Einwandererfamilien, Studenten und Künstlern. Die Nähe zur Elbe und zur Innenstadt lockte aber auch Investoren: 2004 wurde das Bavaria-St.-Pauli-Brauereigebäude für Hochhausbauten abgerissen, die Tanzenden Bauten veränderten die traditionelle Silhouette des Spielbudenplatzes. Die Diskussionen um den Abriss der Esso-Häuser verdeutlichen das Protestpotential im Stadtteil. Theater, Musikclubs und das Reeperbahn-Festival, volle Touristenbusse und unzählige Themenführungen bis in die Nacht zeigen, dass der Stadtteil wieder ein ungebrochenes Interesse bei Hamburgern und Auswärtigen findet. Die Konzentration einer Vielfalt von Vergnügungen – auch anrüchiger und illegaler Art – auf einem relativ kleinen Raum scheint in der Welt einmalig zu sein und bewirkte, dass sich dieser Ruf St. Paulis bis ins 21. Jahrhundert erhalten hat.