
Echte Illusionen
Echte Illusionen
Hamburg hat zwar nicht so große Filmstudios wie Berlin oder München – dennoch hat die Hansestadt einen starken Fingerabdruck in der deutschen Filmlandschaft hinterlassen. Ein Abriss der Hamburger Filmgeschichte: vom Stummfilm über Hans Albers bis hin zu Fatih Akin
von Michael Töteberg
Hamburg ist nicht Berlin oder München, es gibt hier keine hundertjährige Filmtradition mit Studios wie Babelsberg oder Bavaria. Auch eine Handvoll prominenter Namen aus Vergangenheit und Gegenwart – die Schauspieler Hans Albers und Romy Schneider, Filme mit Sophia Loren und Dennis Hopper, die Regisseure Hark Bohm, Wim Wenders und Fatih Akin – kann nicht darüber hinwegtäuschen. Berlinale und Lola-Preisverleihung finden in der Filmmetropole Berlin statt; ein Filmball wie in München ist hier undenkbar. Das Filmfest Hamburg ist bei Weitem nicht so glamourös, dafür aber politischer. Hier ist das Klima rauer – romantische Komödien sind andernorts besser angesiedelt. Unter dem Himmel von Berlin kann man von Engeln träumen, in Münchner Biergärten flirten, Hamburg dagegen ist „Desperado City“ (1981), hier geht es zur Sache.
Hamburg-Filme erzählen längst nicht mehr verlogene Reeperbahn-Romanzen und klischeehafte Kiez-Geschichten. Der deutsch-türkische Film hat in dieser Stadt eine lange Tradition, beginnend mit Tefvik Başers „40qm Deutschland“ (1986). Keiner hat das Genre so geprägt wie Fatih Akin, auch über seine eigenen Filme hinaus. Der Culture Clash gehört zur alltäglichen Realität dieser Stadt, davon kündet Torsten Wackers turbulente Komödie „Süperseks“ (2004) ebenso wie die sensiblen, leisen Filme „Aprilkinder“ (1998) und „Kleine Freiheit“ (2003) von Yüksel Yavuz. Die Diversität hat zugenommen, die Themen haben sich gewandelt: In „Gipsy Queen“ (2019) von Hüseyin Tabak kämpft sich die Boxerin Ali, von ihrer rumänischen Familie verstoßen, in der „Ritze“ zurück in den Ring. In „Bonnie & Bonnie“ (2019) von Ali Hakim verliebt sich die 17-jährige Yara aus Wilhelmsburg in die etwas ältere Kiki, was ihr aus Albanien stammender Vater erfährt, woraufhin beide flüchten. Letztes, aktuellstes Beispiel: „Bambirak“ (2020), Zamarin Wahdats beim Sundance Filmfestival ausgezeichneter Kurzfilm, erzählt von den Erfahrungen eines afghanischstämmigen Mädchen mit dem alltäglichen Rassismus.
Hamburg hat großartige Locations aufzuweisen, aber seit Berlin wieder Hauptstadt ist, international als hip gilt und von staatlichen Fördermaßnahmen profitiert, ist es schwer, in dieser Konkurrenz zu bestehen. Amerikanische Blockbuster werden in Babelsberg gedreht, es gibt speziell dafür zugeschnittene Fördertöpfe. Zwar haben veritable Hollywood-Stars in den vergangenen Jahren in Hamburg gedreht: Kim Basinger, Cate Blanchet, Charlotte Rampling, aber es waren nicht ihre besten Filme. Jim Jarmusch drehte für seinen Vampirfilm „Only Lovers Left Alive“ (2013) eine Szene im Kir in der Barnerstraße, doch ohne Filmförderung wäre er kaum auf die Idee gekommen. Wenn sich in den letzten Jahren eine internationale Großproduktion nach Hamburg verirrte, war dies selten ein Film, der nachhaltig im Gedächtnis blieb: Wer erinnert sich noch an die im Nachkrieg angesiedelte Lovestory „The Aftermath – Niemandsland“ (2019) oder das feministisch gewendete Sequel zu „3 Engel für Charlie“ (2019), mit dem Schauplatz Elbphilharmonie? Positive Ausnahme: Die John-le- Carré-Verfilmung „A Most Wanted Man“ (2014) von Anton Corbjin mit Philip Seymour Hoffman.
Hamburger Filme sind kein Futter fürs Mainstream-Kino. Gewiss, Otto und Til Schweiger haben hier gedreht, aber verbindet man „7 Zwerge – Der Wald ist nicht genug“ (2006) oder „Honig im Kopf“ (2014) mit Hamburg? Die Filme, mit denen Hamburg sich auf die Weltkarte der Kinematografie eingetragen hat, sind andere: „Gegen die Wand“ (2004) von Fatih Akin oder „Systemsprenger“ (2019) von Nora Fingscheidt. Filme mit eigenem Charakter, so wie die Filmstadt Hamburg eine ganz eigene Geschichte hat.
MENSCHEN, MUSIK, SENSATIONEN
Als die Bilder noch laufen lernten, der Film noch stumm war und die Kameramänner die Kurbel drehten, gab es noch keine Filmindustrie in Hamburg. Die Bankiers in der Hansestadt investierten lieber in Schiffe als in Zelluloid. Wer beim Film etwas werden wollte, hatte es hier schwer, schließlich gab es nur eine einzige professionelle Produktionsfirma: die Vera-Filmwerke in der Alsterkrugchaussee.
Die Lage war günstig: Das Atelier – ein Glashaus, denn man brauchte viel Licht – befand sich in einem Park am Wasser, wo man Bootstouren drehen konnte. Die Alsterkrugchaussee bot sich für Automobilrennen an. Opus No. 1 hieß „Der Tod und die Liebe“. In Berliner Filmkreisen wurde die Hamburger Konkurrenz spöttisch belächelt; doch davon ließ man sich nicht beirren. Die Vera produzierte im Jahr zehn Spielfilme; die Bandbreite reichte von „Der Mohr, die Liese und das Affenhaus“ (1920) bis zu „Strandgut der Leidenschaft“ (1922). Für „Heinrich Heines erste Liebe“ (1922) hatte man im Atelier das Haus des Bankiers Salomon Heine nebst Biedermeiergarten nachgebaut. Es handelte sich um ein „Filmsingspiel“, eine Spezialität der Vera. Allerdings lag die Erfindung des Tonfilms noch in weiter Ferne, die Musik musste live im Kino vorgetragen werden. Damit dies glückte, sangen die Schauspieler im Atelier, der Kapellmeister wurde mit aufgenommen und erschien klein rechts unten im Film. An ihm orientierten sich im Kino das Orchester und die Sänger, um lippensynchron mit den Darstellern auf der Leinwand zu sein – eine Art umgekehrtes Playback-Verfahren.
Die Vera-Filmwerke überstanden die Inflationszeit (1914–1923), waren aber angeschlagen. Die Gesellschaft verlegte sich auf Werbung und Kulturfilme. Im Glashaus trieben nun nicht länger „Banditen im Frack“ (1921) oder „Sklaven der Rache“ (1921) ihr Unwesen, sondern es wurde „Der richtige Weg“ aufgezeigt, „Hilfe in der Not“ versprochen und etwas für die Volksgesundheit getan: „Trinkt gesunde Milch“!
Mochte die einheimische Filmszene auch einen unverkennbar provinziellen Anstrich haben, auswärtige Filmteams waren ständig in Hamburg, denn es gab hier einen Drehort, auf den der deutsche Film nicht verzichten konnte: den Hafen. Ein Sehnsuchtsort, der Fernweh, Reise- und Abenteuerlust weckt.
Viele Filme – Kriminalgeschichten, Liebesaffären oder gleich eine Kombination – spielten an Deck eines den Atlantik überquerenden Passagierdampfers. Am Kai warten schon der gehörnte Ehemann, der besorgte Papa oder die Polizei. Die Drehbuchautoren wussten, was verlangt wird – in „Schmutziges Geld“ (1928) springt der tollkühne Held aus einer Höhe von 25 Metern rückwärts vom Schiff ins Hafenbecken. Gedreht wurde im Juni, im Beisein der Presse. Oswalde Valenti löste die Aufgabe, wie die Journalisten betonten, mit Bravour, doch in diesem Augenblick fuhr ein Überseedampfer längsseits vorbei und so wurde er vom Sog angezogen. Nachdem Valenti einige Male untergegangen war, gelang es ihm, an eine Barkasse heranzuschwimmen. Der Aufnahmeleiter war sich nicht sicher, ob der Sprung im Kasten war, und so musste Valenti erneut ran. Der Schauspieler überlebte die Dreharbeiten. Für die Szene charterte die Filmfirma die „Monte Cervantes“. Über zwei volle Seiten inserierte die Reederei Hellmuth J. Michaelsen im Fachorgan „Der Film“: „Meinen umfangreichen Schiffspark – Segelschiffe, Dampfer, Motorschnellboote, Dampfpinasse usw. – stelle ich für Filmaufnahmen zur Verfügung. Geschultes Personal, darunter frühere U-Boot-Leute für die schwierigsten Sturmfahrten!“ Offensichtlich ein lukratives Geschäft.
Die Realität verirrte sich selten in die Illusionswelten der Hamburger Filmemacher. Eine Ausnahme war „Brüder“ (1929) von Werner Hochbaum, der vom Hafenarbeiter-Streik im Winter 1896 handelte. Vorbild waren die sogenannten „Russenfilme“ im Stile von Sergej Eisenstein, der Hamburg damals besucht hatte. „Dieser Bildstreifen ist ein Versuch, mit einfachen Mitteln einen deutschen proletarischen Film zu schaffen“, stand im Vorspann. Alles, Geschichte wie Darsteller, sollte authentisch sein: Die Arbeiter spielen sich selbst, die älteren von ihnen hatten am Kampf selbst teilgenommen. Am Schluss steigt eine (handkolorierte) rote Fahne empor und flattert im Wind. Ein Agitprop-Streifen mit melancholischer Stimmung und künstlerischen Qualitäten, der die Niederlage nicht verschwieg.
Im September 1919 inszeniert Fritz Lang „Harakiri“ (1919), eine fernöstliche Liebestragödie mit Lil Dagover. „Die kleine Japanerin mit den großen, langbewimperten Kinderaugen im schmalen Gesicht nimmt Abschied von dem hohen, schlanken Geliebten in der schmucken Marineuniform.“ Margot Meyer, Hamburg-Korrespondentin der Berliner Filmzeitschriften, war vor Ort. „Man filmt an einem typisch japanischen Bambushäuschen, das blütenumrankt vom Felsen herabschaut.“ Das „original japanische“ Teehäuschen hatte die Firma Umlauff zur Verfügung gestellt. Der Film handelt von der Jagd nach einem Inka-Schatz; Held Kay Hoog, Sportsmann und Dandy, hetzt um die halbe Welt – von San Francisco zu den Falkland-Inseln und wieder zurück –, kam in Wahrheit aber nicht aus Stellingen heraus. „Harakiri“ hatte Lang zwischen den zwei Teilen seines großen Abenteuerzyklus „Die Spinnen“ eingeschoben.
UNTER DEN DÄCHERN VON ST. PAULI
„St. Pauli hat Weltruf. Ein Stadtviertel, in dem das Licht nicht ausgeht. Überall winken Vergnügungen, überall ist das Leben in Wirbeln losgelassen und noch in dunklen Seitenstraßen winken geheimnisvolle Kneipen mit geschminkten Frauen und scharfen Getränken“, leitete die „Licht-Bild-Bühne“ 1928 ihren Artikel über „Die Carmen von St. Pauli“ (1928) ein. Jenny Jugo spielt eine verführerisch-verruchte Schönheit, Willy Fritsch einen braven Steuermann, der ihr verfällt und von einer Ganovenbande ausgenommen wird. Die Geschichte ist nicht neu, doch der Film spielt bereits mit den St.-Pauli-Klischees. So hat der Wirt der Kneipe „Zum guten Anker“ die „Hafenratten“ angeheuert, allabendlich eine Schlägerei in seinem Lokal zu inszenieren – man weiß, was Touristen erwarten, wenn sie sich in eine Kaschemme auf dem Kiez wagen. Auch stilistisch ist der Film bemerkenswert: Eine aufregende Mischung von dokumentarischen Hafenaufnahmen – zwei Minuten schlendert die Kamera am Kai entlang – und Studioaufnahmen. „Die Carmen von St. Pauli“, lange Zeit vergessen, war vor drei Jahren die Entdeckung bei der Berlinale-Retrospektive.
Noch ein Film ragt aus der Flut der St. Pauli-Filme heraus: Werner Hochbaums „Razzia in St. Pauli“ (1932). Der Titel lässt einen reißerischen Krimi vermuten, doch die Geschichte von Ballhaus-Else und Matrosen-Karl ist eine melancholische Ballade. Sie möchte etwas erleben, ihm ist ein ehrlicher Bruch lieber, das kann nicht gut gehen. Wieder war Hochbaum Authentizität ein Anliegen: Angehörige der Unterwelt, Huren und Zuhälter, aber auch Ordnungshüter, alle machten mit. „Die mitwirkenden echten Ganoven verdarben nichts“, so der „Kinematograph“, „tapfer hielt sich die ebenfalls mitwirkende Hamburger Ortspolizei.“ Virtuos fing Hochbaum ein Wechselbad von Stimmungen ein: Tristesse und Euphorie, Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit. Nach der Uraufführung im Mai 1932 lobte der Journalist Siegfried Kracauer, „dass das Hamburg des Hafens, der Reeperbahn und der verdächtigen Kneipen hier nicht in konventionellen Abkürzungen vorüberzieht, wie sie die üblichen Ansichtskarten bieten, sondern mit Entdeckerlust und sachlicher Leidenschaft beobachtet, gestellt und montiert wird“. Kaum waren die Nazis an die Macht gekommen, wurde der Film verboten.
HAMBURGS MEGASTAR
Hamburg hatte einen Megastar, der in jenen Jahren die idealtypische Rolle fand, in der sein „Hoppla, jetzt komm ich“-Charme des liebenswerten Raubeins bestens zur Geltung kam. Der Schauspieler Hans Albers, geboren in St. Georg, hatte bereits in Filmen mitgewirkt, bevor er in „Der Draufgänger“ (1931) einen Hamburger Hafenpolizisten mimte. Im Alleingang nimmt der blonde Hans es mit der Unterwelt auf, klärt einen Perlendiebstahl auf und gewinnt nebenbei das Herz des Mädchens, das er zu Beginn aus dem Wasser zog: Trude, Animierreiterin im Hippodrom. Albers hatte damit das ihm angestammte Milieu gefunden. Locker-lässig bringt er die Welt in Ordnung, hat dabei noch ein Lied für Trude auf den Lippen: „Kind, du brauchst nicht weinen / Du hast ja einen / Und der bin ich.“ Auch Hamburg hatte jetzt einen, auf den Verlass war: Gleich im nächsten Jahr drehte er erneut im Hafen.
Nicht nur für Fatih Akin ist „Große Freiheit Nr. 7“ (1944) der schönste aller Hamburg-Filme. Die Dreharbeiten fanden mitten im Krieg unter schwierigsten Bedingungen statt. Ende Juli 1943 war Hamburg Ziel eines Luftangriffs: Britische und amerikanische Bomber legten ganze Stadtteile in Schutt und Asche, mehr als 40.000 Menschen starben in dem verheerenden Feuersturm. Zwei Monate später, am 5. Oktober, begannen die Aufnahmen. Vom Filmteam wurde ein besonderes Kunststück verlangt: Die zerbombten Häuser und Straßenzüge durften nicht ins Bild kommen, auch nicht die über dem Hafenbecken ausgebreiteten Tarnnetze. Beim Dreh der Barkassenfahrt im Hafen achtete Regisseur Helmut Käutner darauf, dass keine Hakenkreuze ins Bild kamen: Alle Schiffe, die im Film zu sehen sind, haben die Hamburger Flagge gesetzt.
„Hamburg ist der Hauptdarsteller unseres Films!“, postulierte Käutner, was die Zeitungen gern zitierten. Alle waren sich einig, dass die Uraufführung dieses Films nur in Hamburg und nirgendwo sonst stattfinden könne. Doch es kam anders. „Große Freiheit Nr. 7“ ging zunächst nicht durch die Zensur. Im vierten Kriegsjahr wurden dringend Devisen gebraucht, und so erlebte der Film seine Uraufführung in Prag. Die Deutschen bekamen „Große Freiheit Nr. 7“ erst nach dem Krieg zu sehen. Ende Oktober 1945 standen die Hamburger vor den Kinos Schlange.
Der blonde Hans war in diesem Film nicht wie üblich der Draufgänger, sondern ein gebrochener Held. Er zeigte seine Wunden und Narben, Verletzungen, die in den Nachkriegsjahren alle kannten. Vor der bunten Fassade des Amüsierbetriebs legte Käutner eine kollektive Stimmungslage bloß; kein anderer St. Pauli-Streifen erreichte diese Qualität: der Kiez als Seelenlandschaft.
Unterschwellig nahm dieser Film den Trümmerfilm vorweg. Die heile Welt des Ufa-Kinos existierte nicht mehr, Tugend, Sitte und Anstand waren entthront. Die Große Freiheit wurde zum symbolischen Ort, mit ihm verband sich die Sehnsucht nach dem kurzen, rauschhaften Glück und die schmerzliche Erfahrung, dass es nicht festzuhalten ist: „Beim ersten Mal, da tut’s noch weh …“
Der blonde Hans sollte noch in vielen St. Pauli-Filmen spielen, aber dies wurde zunehmend zum Trauerspiel. Wolfgang Liebeneiner kopierte in „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ (1954) unverblümt „Große Freiheit Nr. 7“, legte aber eine dicke Schicht Nostalgie drauf. Hans Albers zitierte sich selbst (und sang seine Hits zur Quetschkommode). Der nächste Aufguss fiel noch dünner aus: „Das Herz von St. Pauli“ (1957). Die deutsche Filmindustrie der 1950er-Jahre beutete den Mythos Hans Albers auf die billigste Art aus und bot dem Schauspieler keine vernünftigen Rollen. Er wusste es selbst am besten: „Albers mit Schippermütze und ’nem Doppelten in der Faust ist eine Sache, aber es darf auch schon mal ’ne Nummer größer sein.“
Von Altona über Istanbul nach Wilhelmsburg
Zugefallen ist ihm nichts: Fatih Akin, der türkische Junge aus Hamburg-Altona, boxte sich durch, bis er auf dem roten Teppich von Cannes stand. Auf den internationalen Festivals sammelt er die Goldenen Bären und Palmen ein, ist aber nach wie vor in Ottensen zu Hause und hat dort auch seine Produktionsfirma. Er hat es geschafft, mit Leidenschaft und Beharrlichkeit, ohne sich zu verbiegen und ohne seine Herkunft zu vergessen. Seine Biografie steht für den selbstbewussten und lockeren Umgang mit zwei Kulturen: Culture Crossing zwischen Bosporus und Elbe.
„Ich bin Altonese“, sagt er gern. 1973 als Sohn zweier Gastarbeiter in Hamburg geboren, aufgewachsen in der Eckernförder Straße; der Vater arbeitete in einer Reinigungsfirma, die Mutter als Lehrerin an der Grundschule. Sein bester Freund, schon seit Schulzeiten, war und ist Adam Bousdoukos, Sohn eines griechischen Gastarbeiters. Dass Türken und Griechen verfeindet sind, störte die Kinder überhaupt nicht (heute sind sie stolz darauf, ihre Eltern zum friedfertigen Miteinander „erzogen“ zu haben). Dritter im Bunde war Tommy, ein Serbe; eine Konstellation, die auch in Akins erstem Spielfilm „Kurz und schmerzlos“ (1998) auftaucht.
Drei Freunde, im Kiez groß geworden: Der Grieche Costa hält sich mit kleinen Deals über Wasser; Gabriel, Türke, frisch auf Bewährung aus dem Knast, will ein neues Leben beginnen; der Serbe Bobby legt sich mit dem Falschen an, einem albanischen Gangster. Die Geschichte geht nicht gut aus. Für den jungen Filmemacher hingegen wurde sie zum Triumph. „Kurz und schmerzlos“ markiert in der deutschen Filmgeschichte einen Wendepunkt: Erstmals meldete sich ein Deutschtürke zu Wort, und zwar mit einem Genrestreifen, nicht mit einem Sozialdrama, sondern mit einem cleveren „Thriller mit Herz“ („Der Spiegel“).
Als Nächstes drehte Akin „Im Juli“ (2000), eine Liebesgeschichte mit Moritz Bleibtreu und Christiane Paul, ein Roadmovie, das von Hamburg-Ottensen quer durch Europa bis nach Istanbul führt. Manche Kritiker glaubten Akin schon auf dem Weg zum Mainstream-Kino, doch mit „Gegen die Wand“ (2004) ließ Akin einen radikalen Autorenfilm folgen: Cahit (Birol Ünel), mit vielen Narben, im Gesicht und auf der Seele, besäuft sich, setzt sich ins Auto und rast ungebremst gegen die Wand. In der Psychiatrie begegnet er Sibel (Sibel Kekilli), die ebenfalls einen Suizidversuch hinter sich hat. Die Dreharbeiten zu „Gegen die Wand“ waren „ein Tanz auf der Rasierklinge“, so Akin. Ünel galt als unberechenbar; Kekilli verfügte über keinerlei schauspielerische Erfahrung.
„Gegen die Wand“ entwirft trotz seiner Wucht mit bemerkenswerter Genauigkeit eine soziale Topografie der Stadt Hamburg. Cahit arbeitet in der „Fabrik“ in der Barnerstraße, er betrinkt sich in der Bar „Zoe“ in der Clemens-Schultz-Straße, wohnt in einem Altbau in der Bernstorffstraße; Sibel lebt bei ihren Eltern in einem Hochhausappartement in Steilshoop. Sie lernen sich kennen in der Klinik Ochsenzoll und heiraten im Standesamt Altona. Es wurde an Originalschauplätzen gedreht, jeder Ort charakterisiert die Figur und kennzeichnet ihre soziale Situation, hier wurde das Bild der Stadt nicht nach Schauwerten zurechtmodelliert.
Ebenso wie „Im Juli“ beginnt „Gegen die Wand“ in Hamburg und endet in Istanbul. Das Schema wiederholt sich auch im folgenden Drama „Auf der anderen Seite“ (2007). Unverkennbar: Hamburg ist die Heimat, die Türkei das Land der Sehnsucht. Akin fremdelte mit seiner Heimatstadt, fand keine reizvollen Locations mehr: „Ich radle jeden Tag durch Hamburg, gehe hier zum Einkaufen, zum Arzt – ich habe keinen erzählerischen Blick mehr auf diese verflixte Stadt, obwohl ich sie liebe. In der Türkei dagegen habe ich das Gefühl, alles mit ganz anderen Augen zu sehen.“ Die Kehrtwendung erfolgte zwei Jahre später mit „Soul Kitchen“ (2009), den er als „Heimatfilm“ deklarierte: „Meine Heimat ist nun einmal Hamburg, und ich hatte das Gefühl: Dieser Stadt bin ich noch einen Film schuldig.“ Akin wählte bewusst Drehorte, die vom Abriss bedroht waren und heute größtenteils nicht mehr existieren: das Mandarin-Casino an der Reeperbahn im ehemaligen Mojo-Club, die Astra-Stube an der Sternbrücke, das Frappant im ehemaligen Karstadt in der Großen Bergstraße, wo jetzt Ikea steht, ein altes Gebäude im Gängeviertel: In diesem Film verteidigen die Helden ihre Heimat.
Darauf bedacht, sich nie zu wiederholen, realisierte Akin mit „The Cut“ (2014) ein historisches Epos, das ein türkisches Tabu, den Genozid an den Armeniern, behandelt; es folgte die gelungene Bestseller-Verfilmung „Tschick“ (2016), danach ein politisches Rachedrama, „Aus dem Nichts“ (2017) mit Diane Kruger, mit dem Golden Globe ausgezeichnet und für den Oscar nominiert. Danach kam ein Horrorstück: „Der goldene Handschuh“ (2019), der die Geschichte des Frauenmörders Fritz Honka erzählt, der in der gleichnamigen Kneipe verkehrte und in Akins Nachbarschaft lebte. Der Patenonkel von Adam Bousdoukos wohnte in der Wohnung unter Honka.
Fatih Akin ist ein Meister, der alle Genres beherrscht. Er wurde zum Vorreiter einer Bewegung, gab der einheimischen Filmproduktion neuen Schub. „Kurz und schmerzlos“, „Gegen die Wand“ und „Soul Kitchen“, gleich drei Filme hat allein er zu den Top Ten der Hamburg-Filme beigesteuert. Von ihm darf man noch einiges erwarten.
HAMBURG IM FILM: EINE FIKTION
Die Topografie Hamburgs ist filmisch gründlich vermessen: „Das Herz von St. Pauli“, inklusive „Große Freiheit Nr. 7“, „Das gelbe Haus am Pinnasberg“ (1970), „Das Beil von Wandsbek“ (1951) und „Der Lord von Barmbek“ (1973), „Die Eingeschlossenen von Altona“ (1962) nicht zu vergessen. Von Wilhelmsburg brachen einst die Jungs in „Nordsee ist Mordsee“ (1976) auf, heute sind es die Mädchen „Bonnie & Bonnie“. Katja von Garniers „Bandits“ (1997) rockten die Hafenstraße, Showdown auf der Köhlbrandbrücke, wo auch die drei Freunde in „Absolute Giganten“ (1999) nach einer abenteuerlichen Nacht die letzte Kurve kriegen. „Es war einmal Indianerland“ (2017), in Jenfeld, wo Autor Nils Mohl aufgewachsen ist und der Regisseur Ilker Catak seinen Roman verfilmte. Sönke Wortmann verfilmte am Ort des Geschehens „Der Campus“ (1998), doch Hamburg ist nicht Oxford, weshalb man teilweise ausweichen musste ins damals sogenannte Museum für Völkerkunde: Dort gibt es noch einen prächtigen holzgetäfelten Hörsaal aus der Kaiserzeit.
Nicht nur Schauspieler haben für bestimmte Szenen ein Double, auch für Schauplätze müssen manchmal andere herhalten. Ein bisschen getürkt wird immer beim Film. Das fällt nur den Einheimischen auf und wenn’s gut gemacht ist, nicht einmal ihnen. Völlig absurd ist eine spektakuläre Szene in „James Bond 007 – Der Morgen stirbt nie“ (1997). Bond landet vom Dach des Atlantic Hotel mit seinem Superauto direkt im Schaufenster des Kaufhof in der Mönckebergstraße. Da mussten die Hamburger im Kino lachen: Das kann nur der Agent des MI6.
Nicht immer ist, wo Hamburg draufsteht, auch Hamburg drin: Die Nazizeit in Hamburg, wie es sich Hollywood vorstellt: „Swing Kids“ (1993), gedreht in Prag. Als die Beatles den Kiez unsicher machten: der britische Kultfilm „Backbeat“ (1994), gedreht in London. Getürkt wurde auch andersherum, vor allem in den 1960er-Jahren: In „Die toten Augen von London“ (1961) fischt ein Bobby eine Wasserleiche angeblich aus der Themse, doch auf der Kaimauer kann man deutlich „Schiffsausrüstung Bode“ lesen. Viele Edgar-Wallace-Filme wurden in Hamburg gedreht; da mussten Speicherstadt und Fleete als Old London herhalten.
Das Finanzamt am Schlump diente als Rathaus von Köpenick in dem Rühmann-Film „Der Hauptmann von Köpenick“ (1956), während wiederum die Szene, in der Heinz Rühmann aus dem Schlesischen Bahnhof kommt, vor dem Altonaer Rathaus gedreht wurde (das Kaiser-Wilhelm-Denkmal vor dem Eingang passte bestens zum Film).
Im dänischen Kinder-Film „Antboy – Die Rache der Red Fury“ (2014) sieht man gleich zu Beginn das Holi-Kino; Pelle, Wilhelm und Ida sehen sich darin eine Marvel-Comic-Verfilmung an. In der nächsten Szene rettet Pelle mit schwarzem Cape als Antboy Maria vor den Terror-Zwillingen. Tatort: die Eisbahn in Planten un Blomen. Hamburg dient hier als Kulisse für die (fiktive) dänische Stadt Middelund.
Hamburg verändert sich pausenlos. Filme hingegen sind Momentaufnahmen – eher unbeabsichtigt werden Spielfilme mit zunehmendem Alter zu Dokumentarfilmen. Die Trümmerlandschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit ist in Wolfgang Liebeneiners „Liebe 47“ (1948) abgebildet; in Peter Lorres „Der Verlorene“ (1950) endet die Verfolgungsjagd auf der Kersten-Miles-Brücke, im Hintergrund die Ruine der Seewarte. In „Das Mädchen aus Hamburg“ (1958) vom französischen Regisseur Yves Allegret sucht der Matrose Pierre Maria, in die er sich 1943 verliebte; das Viertel, wo einst ihr Haus stand, fiel den Bomben zum Opfer. An der Stelle stehen moderne Neubauten wie das Springer-Hochhaus an der Kaiser-Wilhelm-Straße. Das damals „neue Hamburg“ ist inzwischen selbst historisch geworden.
„Etwas vor dem Verschwinden zu retten, das ist ja eine der großen Fähigkeiten des Kinos“, so Wim Wenders zum Dreh seines teilweise in Hamburg gedrehten Films „Der amerikanische Freund“ (1977). Damals sah der Fischmarkt noch anders aus als heute. Die Villa mit der Säulenloggia an der Elbchaussee 186, in der sich Tom Ripley eingenistet hat, steht zwar noch, droht aber zu verfallen und steht auf der Roten Liste des Denkmalschutzamtes. Schauplätze sind für Wenders nicht bloß Kulissen, in denen sich Geschichten abspielen. Hamburg ist in „Der amerikanische Freund“ kein Konstrukt, nicht – wie in so vielen Hamburg-Filmen – synthetisch zusammengesetzt. Wenn Jonathan morgens seine Wohnung am Fischmarkt verlässt, folgt ihm die Kamera. In der Langen Straße – eigentlich eher eine kurze Straße, zwischen Pepermölen und Pinnasberg – hat er seine kleine Werkstatt. Wir meinen doch, den Fischmarkt zu kennen, aber im Film wird daraus ein verwunschener Ort.
Im Kino ist alles „bigger than life“, sonst könnten wir zu Hause auf dem Sofa bleiben. „Wegen der Illusionen geht man ins Kino“, sagt Fatih Akin. „Sie müssen aber, finde ich, echt sein. Echte Illusionen.“