
Fluss in der Stadt
Kleiner Fluss auf Großem Fuss
VON MATTHIAS GRETZSCHEL
Wie ein ziemlich kleiner Fluss eine erstaunlich große Karriere macht, das lässt sich in Hamburg gut beobachten. Mit einer Gesamtlänge von gerade mal 56 Kilometern ist die Alster beileibe kein Strom, nicht vergleichbar mit der Elbe (1.091 km), dem Rhein (1.233 km) oder gar der Donau (2.860 km). Dass sich dieses Flüsschen dennoch weit über Deutschland hinaus großer Bekanntheit erfreut, verdient es allein der Verbindung mit Hamburg.
Wer also den Namen Hamburg hört, denkt natürlich zunächst an die Elbe, jene große wirtschaftliche Lebensader, der die Hansestadt ihren Hafen und die wirtschaftliche Entwicklung zum internationalen Schifffahrts- und Handelsstandort verdankt. Ursprünglich lag Hamburg gar nicht an der Elbe, denn die im achten Jahrhundert entstandene Hammaburg stand auf einem flach ansteigenden Geestrücken in der Marsch zwischen Alster und Bille. Und so war auch Hamburgs erster Hafen nur ein recht bescheidener Anlandeplatz am Reichenstraßenfleet, wo die Bille in die Alster mündete. Ja nicht einmal die Keimzelle des heutigen Hafens lag an der Elbe, sondern im Bereich des heutigen Nikolaifleets, dem damaligen Hauptarm der Alster.
Aber der Reihe nach, beginnen wir ganz am Anfang. Es ist die pure Idylle: Birken und Buchen ragen in den weiten norddeutschen Himmel, dahinter erstreckt sich eine Wiese. Kein Mensch weit und breit, dafür fünf Rehe, die gleich darauf in langen Sätzen über die weite Grasfläche springen und im dichten Grün des Waldsaums verschwinden. Eine Nixe, nackt wie’s sich gehört, badet in den Wogen eines Flusses, hinter dem die Zinnen der Hammaburg zu sehen sind. Auf der Metallplatte, die hier in der Waldeinsamkeit von Henstedt-Rhen von einem Mäuerchen umgeben ist, steht über der stilisierten Bildszene der Schriftzug Quellgrund der Alster. Na ja, hier also ist die Quelle. Man muss sich ein bisschen Mühe geben, die Bedeutung dieses einsamen und fast ein wenig verwunschenen Ortes zu ermessen. Würde die Quelle eines Tages versiegen, kein Mensch in Hamburg bekäme das mit, denn ein Fluss entsteht durch zahlreiche Quellen und den Zusammenfluss vieler Bäche, die ihn auf seinem Weg anwachsen lassen. Dieses Gewirr von Rinnsalen und Zuflüssen erschwert es, den eigentlichen Flussverlauf bis zur Quelle zurückzuverfolgen. Da kommt es schon mal zu Irrtümern. Ursprünglich galt die Alte Alster, die bei Stegen in die Alster mündet, als der eigentliche Quellfluss. Das änderte sich, nachdem sie im 16. Jahrhundert Teil des Alster-Trave-Kanals wurde und dadurch immer mehr an Wasser – und Bedeutung verlor. Seither hat die Alster ihren heutigen Verlauf. So sind es von der Quelle im Henstedter Moor bis zur Mündung in die Elbe zwar nur 24,5 Kilometer Luftlinie, mit seinen zahlreichen Schleifen und Windungen im Oberlauf zieht sich der Fluss tatsächlich aber über mehr als die doppelte Länge.
DIE ENTDECKUNG DER ALSTER
Bis ins Mittelalter war die Alster durch die Elbe gezeitenabhängig, der Wasserstand veränderte sich also fortwährend. Da das Alstertal häufig überschwemmt wurde, was für Hamburg und das Umland eine ständige Gefahr bedeutete, ließ Adolf III. von Holstein Ende des 12. Jahrhunderts den Niederdamm als erste Staustufe an einer seichten Stelle bei der Mühlenbrücke errichten. Staudämme dienten aber nicht allein dem Schutz vor Hochwasser, sondern sorgten zugleich für den Wasserdruck, der für den Betrieb von Mühlen notwendig war. Heute kann man sich kaum noch vorstellen, welche Rolle diese Mahlhäuser für das Leben in der vorindustriellen Zeit gehabt haben. Besonders wichtig waren Kornmühlen, die das als Lebensmittel unersetzliche Mehl produzierten. Schon im Mittelalter gab es auch Öl-, Loh- und Papiermühlen, mit Wasserkraft betriebene Kupferhämmer und Sägewerke.
Je mehr man sich für den Betrieb dieser Anlagen das Wasser als Energiequelle zunutze machte, desto stärker wurden auch die Eingriffe in den natürlichen Flusslauf. Da der Niederdamm für den Mühlenbetrieb in der Stadt bald nicht mehr ausreichte, staute Hamburg die Alster Mitte des 13. Jahrhunderts zum zweiten Mal an – mit bis heute nachwirkenden Folgen: Die Schüttung des Reesendamms auf der Höhe des heutigen Jungfernstiegs war die wohl folgenreichste städtebauliche Maßnahme in der Geschichte Hamburgs – und zugleich die Voraussetzung für die große Karriere des kleinen Flusses. Durch den sogenannten Oberdamm wurde nämlich aus dem bis dato noch unscheinbaren und seichten Mühlenteich ein ziemlich großer Landsee. Ungefähr dort, wo sich heute die Reesendammbrücke befindet, entstand infolgedessen um 1245 die Obermühle. Übrigens: Der Name Reesendamm erinnert an jenen Heyne Reese, der die Mühle ab 1266 betrieb. Was das für ein Mann war? Keine Ahnung, denn außer seinem Namen ist leider nichts über ihn bekannt geworden. Aber immerhin ein originales Zeugnis aus dieser frühen Zeit fanden Arbeiter 1932 beim Bau der U-Bahnstation Jungfernstieg – in Gestalt eines Eichenpfahls, aus dem der Bildhauer Richard Luksch vier Jahre später jenes Relief mit den sieben Jungfrauen gestaltete, das bis heute in der U-Bahnstation zu sehen ist. Dabei bezog er sich auf das folgende Gedicht von Hermann Claudius: „Die Jahrhundert die sind sieben Jungfern sind die selben geblieben. Und ich alter. Eichenpfahl steh hier an dem selben Mal.“ Die Zeilen sind in Hochdeutsch und in Plattdeutsch auf einer Bronzetafel direkt neben dem aus dem Eichenpfahl herausgearbeiteten Relief zu sehen. Hermann Claudius war übrigens der Urenkel des Dichters Matthias Claudius (Der Mond ist aufgegangen). Allerdings auch ein überzeugter Nazi, ganz im Gegensatz zum Bildhauer Richard Luksch, der 1934 aufgrund seiner NS-kritischen Haltung aus dem Staatsdienst entlassen wurde.
Aber zurück in die Mitte der 13. Jahrhunderts, als sich mit dem Bau des Reesendamms die Topografie Hamburgs entscheidend veränderte: Nun gab es nämlich die Kleine Alster zwischen den beiden Dämmen und die Große Alster, die sich vom Oberdamm weit nach Norden ausdehnte, wodurch – wie gesagt – aus dem kleinen Fluss ein beachtlicher See wurde, der den Hamburgern zunächst eine ganze Menge Ärger machte. Wenn sich der Wasserstand nach der Schneeschmelze im Frühjahr stark erhöhte, wurden nämlich die Felder und Wiesen der angrenzenden Ländereien bis hinauf nach Eppendorf und Winterhude überflutet. Standen die Grundstücke des Domkapitels unter Wasser, beschwerten sich die geistlichen Herren so lange, bis die Holsteiner Grafen ihnen den Schaden ersetzten. Und da Hamburg schon im 13. Jahrhundert aus allen Nähten platzte und dringend erweitert werden musste, übertrugen die Holsteiner Grafen den Bereich zwischen Mönkedamm und Alsterfleet bald der Stadt. Schon ein paar Jahre später kamen weitere Gebiete dazu, bis das Hamburger Stadtrecht schließlich für das gesamte Areal von der Alstermündung bis hinauf zum nördlichen Ende der großen Alster galt.
Aber das reichte nicht, denn die Alster war damals längst zu Hamburgs Lebensader geworden. Nicht nur, weil sie der ständig wachsenden Stadt Trinkwasser lieferte und die Mühlen am Nieder- und Oberdamm antrieb, sondern auch wegen des Binnenhafens, der im Südwesten der Stadt entstanden war. Außerdem bot der Fluss nach Norden und Westen hin wirksamen Schutz gegen Feinde, was durch künstlich angelegte Stadtgräben noch verstärkt wurde, die ebenfalls vom Alsterwasser gespeist waren. Keine Frage, angesichts dieser Bedeutung musste der Stadt daran gelegen sein, den gesamten Flusslauf unter Kontrolle zu bekommen. Sonst hätten die Holsteiner Grafen den Hanseaten ja buchstäblich das Wasser abgraben können. So nahm dieses Problem im ersten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts seinen Platz ganz oben auf der Prioritätenliste der Hamburger Ratsherren ein.
Also begann man mit den Holsteinern zu verhandeln, was mühselig, anstrengend und langwierig war. Dass die Hamburger dabei auf lange Sicht keine schlechten Karten hatten, lag keineswegs nur am Verhandlungsgeschick ihrer Ratsherren, sondern auch am gesellschaftlichen Wandel, der sich damals vollzog: Das früher so mächtige Rittertum geriet immer mehr ins Abseits. Die Städte, die ihre Bedeutung dem Handwerk und Manufakturwesen, dem Handel und der Geldwirtschaft verdankten, wurden dagegen immer mächtiger. In den Städten erwirtschaftete man jenes Kapital, mit dem alles käuflich war, was das harte mittelalterliche Leben etwas angenehmer machte: Häuser aus Stein, hochwertige Kleidung, Brennmaterial für die kalte Winterzeit, schmackhaftes Fleisch und sogar Luxusgüter wie Glas aus Venedig und Gewürze aus dem Orient. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass auch Großgrundbesitz käuflich war, vor allem dann, wenn Geldsorgen die adeligen Eigentümer peinigten. So kam es, dass Hamburg den Holsteinern von 1306 bis 1310 den kompletten Alsteroberlauf abhandelte. Das Geschäft war nicht ohne Risiko, da sich die Verkäufer ein jahrzehntelanges und daher schwer kalkulierbares Wiedereinlösungsrecht für sich und ihre Erben ausbedungen hatten. Erst seit 1365, als die letzten Vorbehaltsklauseln abgelaufen waren, verfügte die Stadt über die vollen Eigentumsrechte, wodurch der Fluss endlich auch gesetzlich gesehen Hamburgs Alster war. Insgesamt bezahlte die Stadt dafür 1.050 Mark. Das klingt nach einem Schnäppchen, doch der Eindruck täuscht: Welchen Wert ein solcher Betrag damals hatte, belegt der Erwerb der vier großen Dörfer Fuhlsbüttel, Langenhorn, Eimsbüttel und Eppendorf, die zwischen den Jahren 1283 und 1343 von Hamburg für insgesamt 984 Mark gekauft wurden.
DIE ALSTER ALS TRANSPORTWEG
Schlechte Straßen waren keine Hamburger Spezialität, sondern im europäischen Mittelalter der Normalfall. Erst im 13. Jahrhundert wurde mit der Steinstraße Hamburgs erste Fahrbahn gepflastert. Trotzdem blieben bis in die Neuzeit hinein die Flüsse die wichtigsten Transportwege für Personen und Waren, denn per Boot ließ es sich noch immer viel unkomplizierter und bequemer reisen als auf den Straßen, die nur teilweise befestigt und mit Schlaglöchern und anderen Hindernissen geradezu übersät waren.
Leider erwies sich die Alster in dieser Hinsicht jedoch als glatte Enttäuschung. Da sie an vielen Stellen zu seicht war und außerdem zahlreiche Untiefen aufwies, konnte man hier eigentlich nur Holz flößen, und auch das eher schlecht als recht. Jetzt also besaßen die Hamburger zwar einen Fluss von der Quelle bis zur Mündung, doch dass er sich kaum für die Schifffahrt eignete, war auf die Dauer höchst unbefriedigend. Da die Ratsherren wussten, welche enormen Vorteile sich für den Handel ergeben könnten, waren jetzt Visionen gefragt. Und plötzlich schien ein großartiges Projekt möglich zu werden, von dem man schon lange geträumt hatte: die Verbindung von Hamburg und Lübeck auf dem Wasserweg, womit zugleich ein schnellerer und sicherer Transportweg zwischen Nord- und Ostsee geschaffen worden wäre. Das würde sicher teuer werden, aber schien durchaus möglich zu sein, zumal bereits 1391 bis 1398 mit dem Stecknitz-Kanal ein ähnliches, wenn auch deutlich kleineres Projekt verwirklicht worden war. Die 9,5 Kilometer lange Wasserstraße verband die Stecknitz mit der Delvenau und machte es damit möglich, Güter zwischen Lüneburg und Lübeck zu transportieren. Das war vor allem für den Handel mit Salz wichtig, dem Lüneburg seinen enormen Reichtum verdankte. Nachdem Experten die Möglichkeit jener Alster-Trave-Verbindung für möglich erklärt hatten, schloss Hamburg 1448 mit Herzog Adolf XI. von Schleswig-Holstein-Stormarn und Schauenburg einen Vertrag über die Erbauung eines künstlichen Wasserwegs. Dabei sollte die Alster – im Verlauf der heutigen Alten Alster, ungefähr auf der Höhe von Nienwohld – durch einen Graben verlängert werden, der sich nordöstlich von Sülfeld mit der Beste verbinden würde, die bei Oldesloe in die Trave mündet. Eigentlich eine schöne Idee, die sich auch als enorme Arbeitsbeschaffungsmaßnahme erwies, aber am Ende nur hohe Kosten und jede Menge Ärger einbrachte – als die Arbeiten 1452 aufgrund von unüberwindlichen technischen Problemen schließlich eingestellt wurden, hatte Hamburg schon einen Betrag investiert, der so hoch war wie der Einnahmeposten eines ganzen Jahreshaushalts. Aber es gab auch Gewinner, und zwar jene Kaufleute, die auf das Misslingen des Projekts gewettet hatten. Im Lübecker Stadtarchiv finden sich Unterlagen für eine solche Kanalwette, bei der zwei Bürger den damals unerhörten Betrag von 40 Mark einstreichen konnten.
Obwohl man das Kanalprojekt um 1525 noch einmal aufgriff, scheiterte es auch beim zweiten Anlauf. Dabei schien das große Vorhaben 1528 zunächst geglückt zu sein. In diesem Jahr traf tatsächlich zum ersten Mal auf dem künstlichen Wasserweg ein Schiff von Lübeck in Hamburg ein. Da der Kanal aber oft zu wenig Wasser führte und es außerdem jede Menge Probleme mit den anwohnenden Grundbesitzern gab, stellte man den regelmäßigen Schiffsverkehr schon nach 20 Jahren wieder ein. Offenbar war man den Anforderungen eines solchen großangelegten Infrastrukturprojekts in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts technisch und organisatorisch einfach noch nicht gewachsen. Aber es gibt noch eine zweite, womöglich schwerer wiegende Ursache: Zwischen dem ersten und dem zweiten Kanalbauversuch hatte mit der Entdeckung Amerikas eine weltgeschichtliche Entwicklung begonnen, die den Handel in Nordeuropa gravierend veränderte: Die einst so wichtige Verbindung zwischen den Hansestädten Hamburg und Lübeck spielte auf einmal keine so entscheidende Rolle mehr, denn im Zeitalter der großen Entdeckungen verlagerte sich das Schwergewicht des internationalen Handels von der Ost- auf die Nordsee – und für Hamburg damit auf die Elbe.
Hatte man also das viele schöne Geld letztlich zum Fenster rausgeworfen? Nein, ganz umsonst waren die hohen Investitionen doch nicht gewesen, denn zumindest Teile der Alster hatte man ja damit schiffbar gemacht. Auf relativ kleinen Kähnen mit geringem Tiefgang von maximal 60 Zentimetern transportiere man von nun an nicht nur Kalk und Holz, sondern auch Ziegel aus den Dörfern Rodenbek, Nahe und Trillup, Schnaps aus Wulksfelde, Glas aus verschiedenen Glashütten, Torf aus den Mooren, Kupfer, Öl, Lumpen und Papier. Auch die Findlinge, die 1544 zur Erneuerung des Pflasters der Steinstraße verwendet wurden, transportierte man aus Poppenbüttel in 14 Schiffsladungen. So bestand die Alsterflotte im Jahr 1529 aus immerhin 26 Schiffen, bis Anfang des 19. Jahrhunderts stieg deren Zahl sogar auf 48. Trotzdem blieb die Alsterschifffahrt aufgrund der örtlichen Gegebenheiten und schwer zu lösenden technischen Probleme über Jahrhunderte hinweg ein ziemlich mühsames Geschäft, das mit dem Bau der Eisenbahnen im 19. Jahrhundert noch weiter an Bedeutung verlor und schließlich fast völlig zum Erliegen kam.
DIE ALSTER ALS FREIZEITPARADIES
Schon ein Jahrhundert davor, nämlich um die Mitte des 18. Jahrhunderts, hat Friedrich Hagedorn einen Hymnus an das Flüsschen geschrieben. Im barocken Hamburg, in dem die wohlhabenden Bürger große Gärten anlegten, seltene Pflanzen anbauten und ihre Mußestunden in möglichst angenehmer Umgebung verbringen wollten, rückte der Freizeitwert der Alster sehr viel stärker als jemals zuvor in den Fokus. Während es am Oberlauf noch überwiegend ländlich zuging wurde der Alstersee zunehmend zu einem besonders prägenden Element der Stadtinszenierung. Und das fiel auch auswärtigen Besuchern sofort auf. Einer davon war ein gewisser Johann Kaspar Riesbeck, der 1783 seine vielbeachteten und bis heute immer wieder neu aufgelegten Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland veröffentlichte. Riesbeck war natürlich kein Franzose, aber Franzosen galten so kurz vor dem Sturm auf die Bastille als modern und weltgewandt, sodass sich moderne Ansichten unter einem solchen Pseudonym gut verkaufen ließen. Was nun Riesbeck über Hamburg zu Protokoll gab, klingt zunächst wenig schmeichelhaft. „Der erste Anblick des Innern der Reichs- und Hansestadt Hamburg ist ekelhaft und abschreckend“, schreibt später auf die Alster zu sprechen kommt, klingen seine Erinnerungen ganz anders: „Eine dieser Stadt ganz eigne Belustigungsart bietet der Alsterfluss dar. Er fließt von Norden fast mitten durch die Stadt und bildet in derselben einen See, der wohl seine 1000 Schritte im Umfang haben mag. An den jetzigen schönen Sommerabenden ist dieser See fast ganz mit einer Art Gondeln bedeckt, die aber nicht so traurig aussehen als die venezianischen. Man speist, familien- oder partieweise fahrend, in diesen Gondeln mit der gewöhnlichen Niedlichkeit der Hamburger zu Nacht, und ein mit Musik besetztes Fahrzeug schlängelt sich öfters durch die gedrängten Reihen dieser Gondeln durch. Das Ganze hat eine unbeschreiblich gute Wirkung, besonders, da nahe bei dem See ein öffentlicher, stark besuchter Spazierplatz ist, dessen Lebhaftigkeit jene des Sees noch sehr erhebt.“
Mit dem Spazierplatz dürfte Riesbeck den Jungfernstieg gemeint haben. Das Bild, das er von der Freizeitkultur auf und an der Alster zeichnet, ist für das Leben einer deutschen Großstadt im ausgehenden 18. Jahrhundert durchaus erstaunlich. Offenbar waren es hier nämlich nicht nur die begüterten Schichten, die an und auf der Alster ihr Vergnügen fanden. In dem Reisebericht wird ausdrücklich erwähnt, dass die sogenannten Archen oder Schuten an Sommernachmittagen und -abenden „mit Menschen aus allen Ständen“ gefüllt waren. Bereits für das frühe 17. Jahrhundert sind jene Lustfahrten überliefert, eine Stadtansicht von 1620 zeigt erstmals Alstertörns. Die etwas schwerfälligen Ruderboote, die manchmal auch über ein Hilfssegel verfügten, boten auf Sitzen längs der Bordwand meist acht bis zehn Personen Platz. Dazwischen stand ein Tisch, denn während der oft stundenlangen Ausfahrten wurde gegessen und getrunken. Manche dieser Schuten verfügten über einen Aufbau mit Dach- und Seitenwänden. In zahlreichen historischen Quellen wird von musikalischen Unterhaltungen berichtet, oft spielte im Bug eine Blaskapelle.
Da ein eigenes Boot für den Großteil der Hamburger nicht erschwinglich war, boten im 17. Jahrhundert Schutenvermieter am Jungfernstieg ihre Dienste an. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann man auf der Alster Rudersport zu betreiben. Dafür nutzte man allerdings nicht die schwerfälligen Schuten, sondern leichte Boote englischer Bauart. Und so waren es Expats – Engländer, die in Hamburg geschäftlich zu tun hatten – die den Rudersport auf der Alster populär machten, woraufhin am 18. Juli 1836 schließlich der vornehme Hamburger Ruder-Club gegründet wurde. Sieht man von den Turnvereinen ab, ist der Hamburger und Germania Ruder Club von 1836 sogar der älteste deutsche Sportclub.Auf lange Traditionen blicken auch der RC Favorite Hammonia, der RC Allemania und die RG Hansa zurück. Aber die Ruderer blieben nicht ohne Konkurrenz, denn zur gleichen Zeit entdeckten auch die Segler den innerstädtischen See für sich: Am 26. Juli 1850 fand auf der Außenalster die erste Segelregatta statt (schon vier Jahre zuvor hatte der Allgemeine Alster Club zum ersten Mal ein Wettsegeln veranstaltet) und spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts tauchten auch immer mehr Kanus und Paddelboote auf.
DIE ALSTER ALS VERKEHRSPROBLEM
Wer sich mit diesen leichten Fahrzeugen aufs Wasser begab, dem ging es meist weniger um die Leibesertüchtigung als ums Vergnügen. Ohne viel auf Vorfahrtsregelungen zu achten, fuhren die Boote – oft mit dudelnden Grammophonen an Bord – kreuz und quer übers Wasser, was vor allem die Segler immer wieder zu schwierigen Ausweichmanövern zwang. Glaubt man zeitgenössischen Quellen, dann warfen die Paddler neben dem verkehrstechnischen auch noch ein sittliches Problem auf. Die allgemeine Empörung über das Treiben von Pärchen im Kanu auf stillen Seitenarmen der Alster und im Schutz dichter Hängeweiden war noch größer als die Klage über das unsportliche Verhalten. Schließlich wurde die Wasserpolizei zum Eingreifen genötigt. 1916 verhängten die Behörden das folgende Verbot: „Das Stillliegen aller mit Personen besetzten Lustfahrzeuge von Beginn der Straßenbeleuchtung an ist verboten.“
Ob das Verbot auch tatsächlich beachtet wurde, sei mal dahingestellt. Die Wasserpolizei hatte ohnehin andere Sorgen, denn der Verkehr auf der Alster nahm seit Mitte des 19. Jahrhunderts erheblich zu. Das kündigte sich an einem Sommertag des Jahres 1857 an: HELENE hieß das gefährlich schnaufende und zischende Wasserfahrzeug, das am Jungfernstieg auf hochkarätige Passagiere wartete. Der eigentlich auf dem Rhein beheimatete Flussdampfer war eigens nach Hamburg gefahren, um seine Tauglichkeit für die Alster zu erproben. Gebannt verfolgte eine neugierige Menschenmasse das Schauspiel, wie Bürgermeister Nicolaus Binder, Senator Carl Friedrich Petersen, der Präses der Baudeputation, sowie einige Ingenieure und Beamte das neuartige Wasserfahrzeug bestiegen. Ein gellender Pfiff, dann setzte sich die HELENE in Bewegung, fuhr mitten durch die Binnenalster und näherte sich der Lombardsbrücke. Das Publikumhielt die Luft an, denn ohne Zweifel würde der Dampfer mit seinem Schornstein am niedrigen Brückenbogen hängenbleiben. Vielleicht würde man gar Zeuge einer Katastrophe werden. Plötzlich trauten die Neugierigen ihnen Augen kaum, denn gerade noch rechtzeitig wurde derSchornstein mittels einer Vorrichtung nach hinten gekippt, sodass das Schiff die Brücke unbeschadet passieren konnte. Dennoch überzeugte die Helene die Hamburger Entscheidungsträger bei dieser Probefahrt nicht. Sie war einfach zu groß, zu schwerfällig und daher für die geringe Wassertiefe und die schmalen Durchfahrten der Alster ungeeignet.